Nachtzug nach Lissabon: 696 Seiten Reise durch die Zeit

Pascal Mercier reißt mich aus meinem Alltag und nimmt mich mit auf eine Reise in mein Inneres, lädt mich ein zur Reflexion über persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, zum erneuten Denken bereits gedachter Gedanken.

Foto: Marlene Penz

Pascal Merciers Hauptcharakter Raimund Gregorius bricht aus seinem gewohnten Leben aus, nachdem sich eine Frau vor ihm von einer Brücke stürzen will. Sie ist keine Schweizerin, er fragt sie nach ihrer Muttersprache, sie antwortet „Português“. Er ist fasziniert vom Klang des Wortes. In einer Buchhandlung findet er ein portugiesisches Buch, ihr „Português“ im Ohr, nimmt er es mit, beginnt noch am selben Tag, die ersten Zeilen zu übersetzen. Er ist fasziniert von dem, was er liest. Er baut eine Verbindung zum Autor auf, einem Arzt aus Lissabon. Kurzerhand kauft er ein Zugticket und fährt mit dem Nachtzug in die portugiesische Hauptstadt und macht sich auf die Suche nach dem Autor der Zeilen, die ihn so fesseln. Er zeichnet die Wege des Lebens des Arztes nach und reflektiert dabei die eigenen. Er stellt das erste Mal seinen Weg und getroffene Entscheidungen in Frage und denkt, was wäre wenn …

Ein Goldschmied der Worte

Das Buch, das ihn zu seiner Reise bewegt, trägt den fiktiven Titel: „Ein Goldschmied der Worte“. Pascal Mercier nennt den Autor Amadeu Inácio de Almeida Prado. Immer wieder sind Passagen des Buches abgedruckt, wir können lesen, was Gregorius liest:

„Unter all den stummen Erfahrungen sind jene verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Färbung und seine Melodie geben.“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 35

„Wenn ich Zeitung lese, Radio höre oder im Café darauf achte, was die Leute sagen, empfinde ich immer öfter Überdruß, ja Ekel ob der immer gleichen Worte, die geschrieben und gesprochen werden – ob der immer gleichen Wendungen, Floskeln und Metaphern. Und am schlimmsten ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muß, daß auch ich die ewig gleichen Dinge sage. Sie sind so schrecklich verbraucht und verwohnt, diese Worte, abgenutzt von millionenfacher Verwendung. Haben sie überhaupt noch eine Bedeutung?“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 49

„Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem Leben, was in uns ist, was passiert mit dem Rest?“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 36

„Die Ferne zu den Anderen in die uns dieses Bewusstsein rückt wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, daß unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, daß sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 136

„Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, daß sie mehr über uns selbst als über den Anderen sagen.“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 136

„Dem Augenblick leben: Es klingt so richtig und auch so schön, aber je mehr ich es mir wünsche, desto weniger verstehe ich, was es heißt.“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S.486

„Die Feigheit eines Abschieds dagegen liegt in der Verklärung: in der Versuchung, das Gewesene in goldenes Licht zu tauchen und das Dunkle wegzulügen.“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008,  S. 504

Zu den Aufzeichnungen Prados in Buchform kommen noch Texte hinzu, die Gregorius von Menschen bekommt, die Leben des portugiesischen Arztes eine Rolle gespielt haben und die er auf seiner Reise kennenlernt.

„Der Strom der Gedanken, Bilder und Gefühle, der jederzeit durch uns hindurchfließt, er hat eine solche Wucht, dieser reißende Strom, daß es ein Wunder wäre, wenn er nicht alle Worte, die jemand anderes zu uns sagt, einfach wegschwemmte und dem Vergessen übereignete, wenn sie nicht zufällig, ganz und gar zufällig, zu den eigenen Worten passen. Geht es mir anders?, dachte ich. Habe ich je einem anderen wirklich zugehört? Ihn mit seinen Worten in mich hineingelassen, so daß mein innerer Strom umgeleitet worden wäre?“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 226

„Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit.“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 282

„Enttäuschung gilt als Übel. Ein unbedachtes Vorurteil. Wodurch, wenn nicht durch Enttäuschung, sollten wir entdecken, was wir erwartet und erhofft haben?“  – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 368

„Warum wissen wir so wenig über die Phantasie unserer Eltern? Was wissen wir von jemandem, wenn wir nichts über die Bilder wissen, die seine Einbildungskraft ihm zuspielt?“ – Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 2008, S. 454

Mit dem Nachtzug zum Selbst

Foto: Marlene Penz

Mit Gregorius und Prado gehe ich die bekannten Straßen von Lissabon entlang. Ich habe dort acht Monate lang gelebt – das hat mich wohl zum Lesen des Buchs bewogen. Ich weiß wo die Rua Augusta ist, kenne den Praça do Comércio und habe ein klares Bild vor Augen, wenn Mercier vom Licht spricht, dass sich auf dem Tejo spiegelt – nicht nur ein Bild, auch ein Empfinden macht sich breit, ein Wohlgefühl gepaart mit Melancholie.

Der fiktive Autor im Buch, Prado, stellt Fragen an das Leben, die ich mir selbst stelle, behandelt Themen, die mich beschäftigen, denkt Gedanken, die ich selbst gedacht habe. Auch die Romanfigur Gregorius denkt diese Gedanken, deshalb ist er fasziniert von Prado und dessen Leben. Das Buch behandelt Liebe, Zeit, Beziehungen, die Angst vor dem Tod, vor Krankheit und Leid, vor Fehlentscheidungen, Zweifel – dabei gibt es unglaubliche Lebensenergie und -freude.

Die Zeilen werden zur Kraftquelle. Es sind zwei Erzählstränge, zwei Geschichten, die von Prado und die von Gregorius, auf beide ist man neugierig. Jedes Mal wenn ich müde werde und die letzten Worte nicht mehr sinngemäß erfassen kann, ärgere ich mich, dass ich aufhören muss mit dem Lesen. Jedes Mal habe ich das Gefühl, dass es schade wäre, wenn ich nicht mit allen Sinnen dabei bin, wenn ich Worte und Aussagen verpasse, die Mercier niedergeschrieben hat. Deswegen lese ich konzentriert, bemühe mich alles aufzunehmen, beinahe aufzusaugen, ich will die Worte verinnerlichen.

Die Reise mit Gregorius dauert lange. Ich lese im Nachtzug nach Rom, ich lese in Wien, in Hall in Tirol. Das Buch begleitet mich auch bei meinem Besuch in Lissabon, bei meiner eigenen Reise in die Vergangenheit bei der ich einschneidende Entscheidungen für meine Zukunft treffe. Pascal Mercier reißt mich aus meinem Alltag und nimmt mich mit auf eine Reise in mein Inneres, lädt mich ein zur Reflexion über persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, zum erneuten Denken bereits gedachter Gedanken.

Nachtzug nach Lissabon, Pascal Mercier, 5.Auflage, 2008, btb Verlag, München, ISBN 978-3-442-73888-5

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