Bergauf vom Atlantik in die Alpen

Eine Bergtour bei Hall in Tirol zeigt: Meine Welt sind nicht die Berge. Neben grünen Wiesen und dunklen Tannen braucht es noch glückliche Zufälle, brennende Schenkel und ein gutes Team.

Walderalm, Hall in Tirol

Foto: Marlene Penz

Am Donnerstagmorgen sitze ich niedergeschlagen und verweint in einer Maschine von Lissabon nach Wien. In Lissabon regnet es, nach drei Stunden und 20 Minuten steige ich hungrig und verschlafen in Wien aus dem Flugzeug. Es hat 30 Grad. Als erstes rufe ich meine Mama an. Ja, ich hab Zeit, ja klar, komme ich mit. Fünf Stunden später sitze ich im Auto und fahre ins Waldviertel. Zehn Stunden später sitze ich niedergeschlagen neben meiner Mama im Auto. 4,5 Stunden später steige ich in Hall in Tirol wieder aus.

Ich bin hungrig. Mit Hilfe von Google suchen wir uns eine Bergtour. Es soll der Ganalm-Walderalm Rundwanderung hinauf auf das Walderalm Plateau mit Blick auf das Karwendel und das Inntal werden. Der Plan: Am Nachmittag in den Bergen wandern, am Abend essen gehen in Hall in Tirol. Meine Mama und ich sind uns schnell einig beim Pläneschmieden. Unsere Vorstellungen sind ähnlich, wir sind ein gutes Team. Wir sind gleichzeitig erschöpft, euphorisch und hungrig. Also sind wir zu Mittag hungrig. Wir kaufen noch Obst und suchen dann den Parkplatz in St. Michael, von dem aus wir unsere Bergtour starten wollen. Danach suchen wir einen Busch – wir müssen aufs Klo. Dann essen wir unseren grünen Smoothie, jede löffelt aus einem 500-ml-Essiggurkenglas, isst drei Nektarinen und trinkt Wasser aus der 750-ml-Tomatenpassata-Flasche. Mit leeren Flaschen und vollem Bauch machen wir uns auf den Weg. Laut Google brechen wir auf zu einer 17,7 km-Rundwanderung bei der man in vier Stunden 850 Höhenmeter überwindet.

Sind wir bald da?

Die Sonne scheint, wir schwitzen nach den ersten 100 Metern und kennen den Weg nicht. Die Beschriftung ist sehr dürftig, wir fragen mal nach, wie wir zur ersten Almhütte – der Walderalm – kommen. Wir freuen uns darüber, dass der extrem steile, kurvige Weg durch einen schattigen Wald führt. Nach 15 Minuten bin ich nass geschwitzt und frage mich, wie lang es wohl noch dauert. Ich stelle die Frage nicht laut. Meine Mama ist 200 Meter vor mir. Ich habe Durst, meine Oberschenkel brennen, meine Haare kleben in meinem roten, feuchten Gesicht. Herrlich so eine Bergwanderung. Strahlende Menschen begegnen uns – sie sind alle auf dem Weg nach unten. Wir machen eine Rast, bestimmt sind wir schon 20 Minuten unterwegs. Nach 25 frage ich meine Mama: „Sind wir bald da?“, sie sagt: „Es ist bestimmt nicht mehr weit“. In mir macht sich Panik breit, mich beschleicht das Gefühl, dass sie nicht ehrlich zu mir ist. Ich frage nach, ob es nach der ersten Alm zur nächsten Alm eben weitergeht. Meine Mama sagt: „Es ist bestimmt eben.“ Da meine Mama ja immer alles weiß, will ich ihr auch das glauben, auch wenn sie selbst noch nie diese Tour gemacht hat.

Endlich lichtet sich der Wald. Die Sonne scheint mittlerweile nicht mehr. Auf einmal bin ich Heidi – rund um mich grüne Wiesen im Sonnenschein (naja eher unter dicken, schweren Wolken). Ein Meer voll gelber Blümchen, der Ausblick ist traumhaft. Wir machen Fotos, ich lege mich ins Gras, ich kann mein Glück kaum fassen – ich habe mich zwei Zentimeter neben einen Kuhfladen gelegt. Der Wind bläst, die Natur ist herrlich, das Hochgefühl unbeschreiblich – ausgelöst durch die Freude, dass die enorme Anstrengung vorbei ist, zumindest fürs erste.

Walderalm, Wandern Tirol

Foto: Hermine Penz

Filmkulisse

Wir gehen zur Hütte, es sind nur noch ein paar Meter, wir sehen die Alm aus Holz schon. Das Personal räumt gerade die Tische vor der Hütte. „Beginnts zu regnen?“, „Na schau ma mal“, sagt der Wirt. Hinter uns wird die Tür geschlossen. Es riecht nach gerösteten Zwiebeln und Käse. In der Hütte sind ein paar Einheimische. „Griass eing“, sagen sie und lächeln ihr freundliches Lächeln mit Lippen und Augen. In der Walderalm gibt’s Kaspressknödl, Gröstl oder Schmalzbrot zur Stärkung. Zum Kaffee selbstgemachten Apfelstrudel und Sacherschnitte. Der Wind stößt ab und zu die Tür auf. Die Einkehrenden, die nach uns kommen, sind alle nass, draußen gewitterts. Wir trinken unseren Kräutertee. Nach zwei Tees hört es auf zu regnen, wir ziehen uns an. Wieder draußen stehen wir in Mitten von Kühen, die neben der Hütte weiden. Ich bin in einem alten Heimatfilm gelandet, die Kuhglocken läuten, während sich meine Mama singend in einem karierten Kleid im Kreis dreht.

Walderalm, Hall in Tirol

Foto: Marlene Penz

Wir folgen dem Pfeil zur nächsten Hütte, zur Ganalm im Vomper Loch. Anfangs im Hopseschritt – es ist doch ziemlich frisch geworden. Es geht bergab. Mama stutzt, sie hat doch gesagt es bleibt flach. Verunsichert gehen wir weiter. Bei einer Wegscheide stoppen wir. Sollen wir rauf oder runter gehen? Auf einmal kommt ein Mountainbiker. Er sagt uns, dass es zur Ganalm runtergeht. Es ist steil, der Weg ist voller Geröll, ich stoße mir zweimal hintereinander den großen Zeh – natürlich trage ich keine Bergschuhe, nicht einmal gute Turnschuhe. Danach hebe ich meine Beine wie ein Storch – Mama prophezeit einen Muskelkater. Wir sehen die Alm und freuen uns – ok, unsere Freude ist etwas getrübt, weil sie geschlossen ist – aber wir sind auf dem richtigen Weg und das alleine verbuchen wir als Erfolg. Mama staunt bei dem Bergmassiv, durch das uns dieser richtige Weg führt. Ich habe schon wieder ein bisschen Hunger und frage Mama: „Sind wir bald da?“, sie sagt: „Es ist bestimmt nicht mehr weit.“ Da es nicht mehr weit ist, mache ich noch ein paar Fotos – mein Akku ist leer – na toll, denke ich, jetzt wissen wir nicht wie viele Kilometer wir gegangen sind. Eine Tragödie für jemanden, der täglich seine Schrittanzahl kontrolliert.

Ohne Sturzhelm

Wir kommen tatsächlich wieder am Fuß des Berges an, der Wald lichtet sich. Wir sind auf einem Feldweg. Irgendwo im Nirgendwo, keine Beschilderung, kein Wegweiser. Rechts oder links? Ich wollte nach links gehen. Da kommt ein Mopedfahrer. Ich halte ihn auf, anstatt eines jungen Burschen ist es ein 60-jähriger Mann. Ich frage, wo es denn nach St. Michael geht. Er zeigt nach rechts – Glück gehabt. Er startet wieder und saust davon. Nach drei Metern stoppt er, fragt, ob er eine von uns mitnehmen soll zum Auto. Ich frage, ob es denn noch weit ist. Er sagt eine Stunde zu Fuß – ich denke an meinen Hunger. Meine Mama denkt auch daran, ich sehe es in ihren Augen. Ich sage, ich habe keinen Akku mehr. Sie drückt mir ihr Handy in die Hand, nimmt meines und schwingt sich hinter dem Mann aufs Moped. Sie saust davon. Ok, ich gehe nach rechts. Leichte Bedenken machen sich breit. Meine Mama auf dem Bike eines Fremden – und das ganz ohne Sturzhelm …

Nach 15 Minuten klingelt ihr Telefon, mein Gesicht schaut mich dumm an, ich hebe erleichtert ab. Meine Mama ist amüsiert und sagt sie fährt mir schon entgegen. Ich bin erleichtert, sehe sie kommen. Leicht schwindelig steige ich ins Auto, wahrscheinlich der Hunger. Wir lachen, freuen uns über unser Glück, wir sind ein gutes Team. Wir bedanken uns beieinander und teilen uns eine Portion Tiroler Schmankerl. Wir finden die Schlutzkrapferl am Besten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert