Instagram zum Anfassen

Nach dem hundertsten Besuch deines Instagramprofils erinnere ich mich an die Fassaden des Anfangs und an das erste Nacktsein.

Selbstprotrait

Foto: Marlene Penz

In der letzten Stunde habe ich mir dein Instagramprofil 100 Mal angesehen. Neues habe ich dabei nicht entdeckt. Im vergangenen Jahr habe ich J-Instagramwissenschaften studiert, hätte ich morgen meine Masterprüfung, würde ich mit Auszeichnung bestehen. Wenn ich in meiner App auf Suche klicke, erscheint dein Name als erstes. In Zeiten der Zufriedenheit und des Glücks habe ich aus Gewohnheit regelmäßig draufgeklickt. In Zeiten der Sehnsucht habe ich mich zu dir geträumt, in Zeiten der Verzweiflung und des Schmerzes habe ich nach Antworten und Nähe gesucht.

Versteckspiel
Heute geht es mir nicht gut, ich denke an dich. Ich denke daran, was schief gegangen ist, denke an Situationen, die schmerzlich sind. Mein Herz zerbricht beinahe unter der Last der Erinnerungen. Ich fühle mein Herz. Meine Augen füllen sich immer wieder mit Tränen, ich versuche, die Gedanken aus meinem Herzen wegzuscheuchen, sie nur in den Kopf zu lassen. Das funktioniert nicht, immer wieder wird mein Herz attackiert. Ich versuche schließlich, die Gedanken auch aus meinem Kopf zu scheuchen. Warum ich heute in schmerzlichen Erinnerungen schwelge, weiß ich nicht. Ich bin in Lissabon im Frühsommer letzten Jahres, im Hochsommer und im Herbst. Ich bin in Prag. Weiter komme ich heute nicht. Ich erinnere mich an meine Tränen, an den Schmerz, an die unausgesprochenen Gedanken.

Am Ende erinnere ich mich an den Anfang. Ich erinnere mich daran, wer du warst, wer ich war, als wir uns kennenlernten. Wahrscheinlich waren wir dieselben aber versteckt hinter einer Fassade voller Erwartungen, Wünsche und Unterstellungen. Wir verstecken uns nicht nur selbst, sondern auch gegenseitig. Ich sehe dich mit den Augen einer Unwissenden, du mich mit den Augen eines Unwissenden. Wir können uns leicht etwas vorspielen, können uns inszenieren, keiner kennt den anderen. Die Fantasie spielt mit. Es ist fleischgewordenes Instagram, Instagram zum Anfassen.

Unzensierte Nacktheit
Das erste Mal entblöße ich mich nach drei Wochen vor dir, ich entblöße mich auch vor mir selbst, ich zeige dir alles ohne schwarzen Zensurstreifen. Wir stehen auf dem Dach, die Sonne ist gerade hinter dem Tejo untergegangen. Du schaust mich an, ich schaue an dir vorbei und sage dir, dass ich glaube, dass ich mich in dich verliebt habe. Erst nachdem ich es gesagt habe, wage ich es, dich anzuschauen. Ich fühle mich schwindelig, ich fühle mich frei. Ich habe mich nackt gemacht vor dir. Danach entblöße ich mich selten. Wer nackt ist, ist ungeschützt, zu viele Abschürfungen habe ich davon getragen.

Ich verscheuche die Gedanken aus meinem Kopf und ziehe mich warm an, nehme mein Iphone und klicke auf dein Instagramprofil – es sind bereits 50 Minuten seit meinem letzten Update vergangen.

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